
Wie wir im letzten Artikel (Der christliche Altar) gesehen haben, behaupten moderne Liturgiewissenschaftler oft, die ersten Christen hätten weder Altäre noch Kult- bzw. Sakralräume gekannt. Man habe bei den Gemeindeversammlungen die Eucharistie an gewöhnlichen Tischen gefeiert, und die Versammlungsräume seien ebenfalls gewöhnliche Speiseräume in Wohnhäusern gewesen.
Die Hauskirchen-Theorie
Die Hauskirchen-Theorie besagt, das Christentum habe sich in den Städten in privaten Wohnhäusern wohlhabender Christen ausgebreitet, wo man im kleinen Kreis die Eucharistie gefeiert habe. Es hätte also in großen Städten mehrere solcher Hauskirchen gegeben. Bisweilen behauptet man dann, der Hausherr oder sogar die Hausherrin (die matrona) habe der Liturgie vorgestanden und sie gestaltet. Das sind aber nur Phantasieprodukte, für die jeder historische Beleg fehlt.
Natürlich trafen sich die Christen auch in Privathäusern und beteten dort zusammen, die Apostel predigten sicher auch in Privathäusern (Apg 5,42), aber es ist nicht belegt, dass man dort die Eucharistie gefeiert hat. Das letzte Abendmahl fand in einem dafür zur Verfügung gestellten Obergemach statt, und der Evangelist Markus spricht ausdrücklich von einem „großen Obergemach“ (Mk 14,15). Wenn es das Obergemach war, in dem sich die Apostel nach Pfingsten versammelten (vgl. Apg 1,13), war es wirklich groß, denn bei der Wahl des Matthias waren dort ca. 120 Menschen versammelt (Apg 1,15).
Auch in Korinth trafen sich die Christen offenbar nicht in einem Privathaus, denn Paulus fragt sie, ob sie nicht Häuser zum Essen hätten (vgl. 1 Kor 11,22), und er meint zudem, die Frauen sollten zu Hause ihre Männer befragen und nicht in der Gemeindeversammlung reden (14,35). Im 1. Korintherbrief (14,23) heißt es ausdrücklich, dass „die ganze Gemeinde an demselben (Ort)“ zusammenkam. Ebenso war es in Troas. Hier fand die sonntägliche Versammlung in einem großen Obersaal statt, in dem viele Fackeln brannten (vgl. Apg 20,7 ff).
Die einzige Stelle, die man für die Hauskirchen-Theorie anführen kann, findet sich in der Apostelgeschichte (2,46), wo es heißt: „Täglich verharrten sie einmütig im Tempel, brachen in den Häusern das Brot und genossen ihre Speise in Frohsinn und Schlichtheit des Herzens.“ Jedoch ist es eher unwahrscheinlich, dass mit dem Brotbrechen hier die Feier der Eucharistie gemeint ist.
Die tägliche Zelebration der hl. Messe ist erst ab dem 4. oder 5. Jahrhundert bezeugt, vorher feierte man die Messe nur am Sonntag und vielleicht noch an besonderen Festtagen. Auch im Evangelium von den Emmausjüngern meint das Brotbrechen, an dem sie den Heiland erkennen, wohl kaum die Feier einer Messe, denn da die Emmausjünger beim letzten Abendmahl nicht dabei gewesen waren, hätten sie gar nicht gewusst, um was es sich dabei handelt. Wahrscheinlich ist mit dem Brotbrechen in Apg 2,46 ein rituelles Essen, eine Agapefeier gemeint.
In den Grußlisten der Paulusbriefe findet sich allerdings viermal die Formulierung „und die Gemeinde in ihrem Haus“, z. B. im 1. Korintherbrief (16,19): „Es grüßen euch vielmals im Herrn Aquila und Priska mit der Gemeinde in ihrem Haus“ (vgl. auch Röm 16,5; Kol 4,15; Phlm 2). Dies wird oft als wichtiges Argument für die Existenz von Hauskirchen genommen. Jedoch kann das hier mit „Gemeinde“ übersetzte griechische Wort ekklesia auch einfach „Versammlung“ bedeuten. Stefan Heid meint, es meine hier einfach die Hausgemeinschaft. Bald verengte sich aber die Bedeutung von ekklesia, und man verstand darunter nur noch die kirchliche Gemeinschaft. Origenes fasste das Wort in der ersten Hälfte des 3. Jahrhunderts noch als Hausgemeinschaft auf, aber Chrysostomus meinte ein Jahrhundert später schon, Paulus nenne hier eine Hausgemeinschaft wegen ihrer Tugenden eine eigene Kirche.1
In der frühchristlichen Literatur ist jedenfalls nie von Hauskirchen die Rede. Es herrschte im Gegenteil das Prinzip, dass eine Stadt auch nur eine Kirche hat. In den ersten drei christlichen Jahrhunderten spricht kein einziger Text von einer Mehrzahl von Eucharistie-Orten in einer Stadt. Es gab offenbar nur die Messe des Bischofs, bei der die Priester assistierten. So hat es Ignatius v. Antiochien beschrieben:
Denn es gibt nur ein einziges Fleisch unseres Herrn Jesus Christus und einen einzigen Kelch zur Einigung seines Blutes, einen einzigen Altar wie einen einzigen Bischof zusammen mit dem Presbyterium und den Diakonen
(Brief an die Philadelphier 4).
Auch Justin, der die kirchlichen Verhältnisse in Palästina, Kleinasien und Rom kannte, schreibt um 150:
Am sog. Sonntag findet die Versammlung aller, die sich in den Städten oder auf dem Land aufhalten, an demselben Ort statt
(Apologie I, 67,3)
Es gab also in jeder Stadt nur einen Raum, in dem die Christen sich versammelten. Dieser Saal wurde sehr bald (spätestens seit dem 2. Jahrhundert) ein exklusiver Kultraum. In den ersten zwei Jahrhunderten gibt es keinen Hinweis für die Feier der Messe durch einfache Priester. Im 3. Jahrhundert schreibt dann der hl. Cyprian, dass Priester während der decischen Verfolgung in den Gefängnissen heimlich das hl. Opfer darbrachten (Epistolae 5,2), aber das waren Ausnahmesituationen. Möglicherweise konnte ein einfacher Priester den Bischof bei Verhinderung vertreten, aber erst als die Zahl der Christen immer mehr wuchs, wurde es allgemein üblich, dass die einfachen Priester ohne den Bischof die Messe feierten.
Die einzige „Hauskirche“, die man bisher gefunden hat, ist übrigens in Dura Europos am Euphrat im heutigen Syrien (entdeckt 1920, ausgegraben bis 1939). Aber hier hat man ein privates Wohnhaus Mitte des 3. Jahrhunderts zur Kirche umgebaut. Es gibt einen Gottesdienstraum (das erweiterte Triklinium) und ein Baptisterium (Taufkapelle) mit biblischen Wandmalereien. Aber es war nach dem Umbau eben kein Wohnhaus mehr, sondern diente ausschließlich dem christlichen Kult.
Manchmal wird behauptet, die Christen hätten vor Kaiser Konstantin keine eigenen Versammlungsräume haben können, da das Christentum nicht anerkannt, sondern eine religio illicita, eine verbotene Religion war. Das ist aber nicht wahr. Der Heide Porphyrius schreibt um 270, die Christen würden „sehr große Gebäude errichten“, in denen sie zum Beten zusammenkämen, obwohl sie doch auch in ihren privaten Häusern beten könnten; und Eusebius berichtet in seiner Kirchengeschichte (8,2,4), Diokletian habe bei seiner Christenverfolgung im Jahr 303 auch den Abriss der christlichen Kirchen (ekklesíai) angeordnet.
Nachdem die Kirche unter Konstantin die Freiheit erlangt hatte, baute man auch Kirchen außerhalb der Stadtmauer, und zwar bei Friedhöfen. Es waren Märtyrer-Kirchen, wo an den Gedenktagen die Messe gefeiert wurde, normalerweise vom Bischof, manchmal aber auch in seiner Vertretung von einem Priester.
Der bischöfliche Altar scheint anfangs beweglich gewesen zu sein. Man konnte ihn z. B. in eine Märtyrerkirche mitnehmen oder ihn bei Verfolgungen in Sicherheit bringen. Jede Ortskirche scheint also wirklich nur „einen Altar“ gehabt zu haben. In manchen Kirchen hat man Vertiefungen gefunden, die offenbar dazu dienten, die Füße des Altars einzulassen und ihm einen festen Stand zu geben. Es war die Aufgabe der Diakone, den Altar zu tragen.
Einen Sonderfall stellte Rom dar. Justin spricht davon, dass am Ende der sonntäglichen Feier die eucharistischen Gaben (das Fermentum) von den Diakonen zu den Abwesenden getragen werden (Apologie I, 65,5; 67,5). Eine Versendung von Speiseanteilen war in der Antike nicht unüblich. Möglicherweise wurde in Rom, wo nicht alle zum zentralen Gottesdienst kommen konnten, die Eucharistie an dezentrale Versammlungsorte gebracht, wo die Kommunion – wahrscheinlich in Verbindung mit einem kurzen Gottesdienst und Ablegung des Glaubensbekenntnisses – ausgeteilt wurde. Später übernahmen auch Akolythen diese Aufgabe. Das kleine Leinensäckchen, indem sie das Sakrament trugen, wurde ihnen zeitweise bei der Weihe übergeben. Bekannt ist der Akolyth Tarcisius, der den Märtyrertod erlitt, weil er sich geweigert hatte, den Heiden die hl. Eucharistie auszuliefern, die er zu Gläubigen tragen sollte.
Ein anderer Sonderfall war Alexandrien. Hier gab es schon zu Beginn des 4. Jahrhunderts mehrere Kirchen, weil auch diese Stadt zu groß war und der Bischof die Seelsorge nicht allein bewältigen konnte. Arius war (um 310–320) ein solcher Presbyter, der einer Kirche vorstand. Man liest aber nie, dass in diesen Kirchen die Eucharistie oder die Taufe gefeiert wurde. Es ging nur um Versammlungen der Gläubigen, Predigten und Katechesen der Priester. Möglicherweise war also der bischöfliche Zentralgottesdienst in dieser Zeit noch nicht in Frage gestellt, und die Priester erhielten erst später die Erlaubnis, selbstständig die Sonntagsmesse zu feiern.
Kirchen als Mehrzweckhallen
Eine Kirche ist ein ausschließlich für den Gottesdienst, besonders für die Feier des hl. Messopfers bestimmtes Gebäude. Es wird durch die Benediktion oder die feierliche Konsekration des Bischofs dem profanen Gebrauch entzogen. Wie wir gesehen haben, bemühten sich die Christen von Anfang an um solche ausschließlich für den Gottesdienst bestimmten Kulträume.
Vor dem Zweiten Vatikanischen Konzil wäre es undenkbar gewesen, eine Kirche für rein weltliche Veranstaltungen zu nutzen. Seriöse Konzerte wurden manchmal erlaubt, aber nur sehr zurückhaltend, denn eine Kirche ist kein Konzertsaal. Man nahm dann auch das Allerheiligste aus dem Tabernakel.
In der Nachkonzilszeit hat man dagegen neu gebaute Kirchen manchmal von vorneherein als Mehrzweckhallen konzipiert, in denen außerhalb des Gottesdienstes Vorträge, Gruppentreffen oder Tanzstunden abgehalten werden können. Dies zeigt einen Verlust des Gespürs für das Heilige, wie ihn viele Heiden nicht hatten, und kann sich keineswegs auf die urchristliche Praxis berufen.
- 1. Stefan Heid: Altar und Kirche. Prinzipien christlicher Liturgie. Regensburg (Schnell & Steiner) 2019, S. 84, Anm. 76