50. Sind die Mitglieder der anderen Religionen «anonyme Christen»?

06. Juni 2018
Quelle: Distrikt Österreich

100 Fragen zur aktuellen Lage der Kirche

Für Karl Rahner sind die anderen Religionen anonymes Christentum. Sie sind Heilswege, «auf denen die Menschen Gott und seinem Christus entgegengehen».[133] Die anderen Religionen würden zwar nicht an Christus glauben wie die Christen, aber sie würden ihn suchen. Sie seien suchende Christologien. Das ist jedoch falsch. Die anderen Religionen halten die Menschen ja gerade davon ab, an Christus zu glauben und sich taufen zu lassen. Wenn der Islam z.B. lehrt, daß es eine Gotteslästerung sei, von Gott zu behaupten, er habe einen Sohn, so ist er für seine Anhänger ein Hindernis für den wahren Glauben.

Es ist falsch, die falschen Religionen grundsätzlich als Ausdruck der Wahrheits- und Gottessuche zu betrachten. Ein religiöses Bekenntnis hat normalerweise einen festen Charakter. Wer einer Religion angehört und einen Kult ausübt, hat normalerweise eine feste Überzeugung. Ein Mohammedaner z. B. sucht nicht, sondern meint, die Wahrheit schon zu besitzen. Er wird also durch seine Religion vom wahren Gottesbild und von der wahren Gottesvereinigung abgehalten. Er sucht erst dann, wenn er angefangen hat, an seiner Religion zu zweifeln.

Im übrigen haben die Andersgläubigen sich bisweilen mit einer gewissen Empörung dagegen verwahrt, sie einfach als «anonyme Christen» zu vereinnahmen. Ein überzeugter Mohammedaner oder Buddhist wird sich dagegen wehren, wenn man ihm sagt, er sei in Wirklichkeit schon Christ, auch wenn er es noch nicht wisse. Ebensowenig wird ein überzeugter Christ gerne als anonymer Zen-Buddhist bezeichnet werden wollen, auch wenn Karl Rahner dies für ehrenhaft hielt: «K. Rahner berichtet seinerseits von einem Gespräch mit K. Nishitani, in dem dieser ihn gefragt hat: ‚Was würden Sie dazu sagen, wenn ich Sie als anonymen Zen-Buddhisten deuten würde?’ Rahners Antwort lautete: ‚Selbstverständlich dürfen und müssen Sie das von Ihrem Standpunkt aus tun; ich fühle mich durch solche Interpretation nur geehrt ...’»[134]

Anonyme Christen kann man allenfalls die nennen, die trotz der falschen Lehren ihrer Religion aufgrund einer besonderen Gnadenführung Gottes die innere Bereitschaft haben, alles anzunehmen, was Gott geoffenbart hat und will. Das trifft aber keineswegs grundsätzlich für alle oder auch nur die Mehrheit der Anhänger der nicht-christlichen Religionen zu.

[133] Schriften zur Theologie. Bd. 13. Einsiedeln 1978. S. 350.
[134] H. Wadenfels: Theologie der nichtchristlichen Religionen, S. 765. In: E. Klinger u.a. (Hg.): Glaube im Prozeß, Freiburg 1984.

Quelle: Katechismus zur kichlichen Krise, Pater Matthias Gaudron, Sarto-Verlag, 2017, 4. Auflage