30. Sind alle Texte des II. Vatikanums abzulehnen?

17. Januar 2018
Quelle: Distrikt Österreich

100 Fragen zur aktuellen Lage der Kirche

Man kann die Texte des 2. Vatikanischen Konzils in drei Gruppen einteilen: Eine Reihe von ihnen kann man ohne weiteres akzeptieren, da sie mit der katholischen Lehre konform sind, wie z. B. das Dekret über die Ausbildung der Priester. Andere Texte sind zweideutig, d. h. man kann sie zwar richtig verstehen, sie können aber auch in einem falschen Sinn ausgelegt werden. Schließlich gibt es aber noch einige Texte des Konzils, die überhaupt nicht mehr richtig gedeutet werden können und denen man so, wie sie jetzt formuliert sind, vom Standpunkt des katholischen Glaubens aus in keiner Weise zustimmen kann. Ein solcher Text ist beispielsweise die Erklärung über die Religionsfreiheit.

Den zweideutigen Texten kann man zustimmen, wenn sie – nach einem Wort Erzbischof Lefebvres – «im Lichte der Tradition» gedeutet werden. Die dritte Gruppe von Texten müßte aber erst korrigiert werden, bevor man ihnen die Zustimmung leisten könnte.

Zweideutigkeiten wurden bewußt in die Konzilstexte eingebaut, um die konservativen Konzilsväter zu täuschen. Man konnte sie in Sicherheit wiegen, indem man betonte, der Text wolle nichts anderes sagen als das,was die Kirche im Grunde immer gelehrt habe. Später aber konnte man sich dann auf diese Stellen für die Verteidigung ganz unorthodoxer Thesen berufen. Dies bestätigen z. B. Karl Rahner und Herbert Vorgrimler, wenn sie schreiben, daß man «manche und nicht unerhebliche theologische Fragen, über die man sich nicht einigen konnte, offen ließ, Formulierungen wählte, die von den einzelnen theologischen Gruppen und Richtungen auf dem Konzil noch verschieden gedeutet werden können.»[73] Diese bewußte Verschwommenheit begründete man auch damit, daß das II. Vatikanum ja nur ein Pastoralkonzil sein wolle und darum nicht in einer solchen theologischen Klarheit sprechen müsse, wie sie für ein dogmatisches Konzil vonnöten sei. Selbst der extrem modernistische Dominikanertheologe E. Schillebeeckx fand dieses Verfahren unfair und unehrlich.[74]

Zweideutigkeiten gibt es im Konzil so viele, daß es den Rahmen dieser kleinen Abhandlung sprengen würde, sie auch nur annähernd alle aufzuzählen. Wir beschränken uns auf zwei Beispiele in der dogmatischen Konstitution über die Kirche Lumen gentium. Einige liberale Konzilsväter vertraten zum Thema Kollegialität die extreme Meinung, die höchste Autorität in der Kirche komme nicht dem Papst, sondern dem Bischofskollegium zu. Der Papst habe höchste Autorität also nur, wenn und insofern er als Repräsentant des Bischofskollegiums spreche. Der entsprechende Abschnitt in der Kirchenkonstitution wurde bewußt zweideutig gehalten, um ihn nach dem Konzil im Sinn der extremen Meinung auszulegen. Die Liberalen begingen allerdings den Fehler, ihre Absicht in einem Brief darzulegen, der den konservativen Vätern in die Hände fiel. Nach Wiltgens [75] soll Paul VI. geweint haben, als er merkte, wie man ihn getäuscht hatte. Er ließ daraufhin eine «erläuternde Vorbemerkung» anfertigen, um die extrem modernistische Interpretation des Konzilstextes auszuschließen.

Ein weiteres Beispiel für eine solche Doppeldeutigkeit ist das berühmte subsistit in in Lumen Gentium 1,8. Hier heißt es, daß die Kirche Christi in der katholischen Kirche «verwirklicht ist» bzw. in ihr «subsistiere» (= subsistit in).[76] Die frühere Lehre der Kirche – wie sie noch von Pius XII. in Mystici corporis und Humani generis dargelegt wurde – sagte dagegen ausdrücklich, daß die Kirche Christi die katholische Kirche ist. Dieses «est = ist» stand auch noch in den ersten Entwürfen der Kirchenkonstitution. Die katholische Kirche ist also nicht nur irgendeine Verwirklichung der Kirche Christi, sondern es besteht eine absolute Identität zwischen der Kirche Christi und der katholischen Kirche. Andere kirchliche Gemeinschaften gehören daher nie zur Kirche Christi. Man kann das subsistit in zwar noch irgendwie im traditionellen Sinn verstehen. Es wurde von den Neueren aber eingeschleust, um damit nach dem Konzil ein neues Kirchenverständnis zu begründen, nach dem die katholische Kirche nur noch eine Verwirklichungsform der Kirche Christi ist und auch andere Kirchen als zur Kirche Christi gehörig betrachtet werden können. So tut es beispielsweise Kardinal Willebrands: «Das subsistit in hebt jedoch noch einen anderen Aspekt hervor; und im Geist der Konzilsdiskussion über Lumen gentium ist er ebenso wichtig wie das Vorausgehende. In der von Humani generis sowie vor allem von Mystici corporis inspirierten Formulierung war das est ausschließlich. Es stellte ganz einfach fest, was Kardinal Liénart in seiner Rede als strikte Identität zwischen der römisch-katholischen Kirche und dem mystischen Leib dargestellt hatte, ‚als ob der mystische Leib vollständig innerhalb der Grenzen der römischen Kirche begrenzt sei’. Subsistit in dagegen zielt darauf ab anzudeuten, daß die Kirche, die wir im Credo als die eine, heilige, katholische und apostolische bekennen, in dieser Welt, konstituiert und organisiertals Gesellschaft, zu finden ist in der katholischen Kirche, obgleich sie weiter gespannt ist als ihre sichtbaren Grenzen. … Subsistit in läßt also sowohl die Überzeugung zu, daß die eine ursprüngliche Kirche Gottes in der katholischen Kirche zu finden ist, als auch die Gewißheit, daß sie sich nichtsdestoweniger, wenn auch mit einem Mangel an Fülle, über die katholische Kirche hinaus ausdehnt.»[77] Hier ist die katholische Kirche zwar vielleicht noch die beste Form der Kirche Christi, aber doch nur eine unter vielen. Dies steht im absoluten Widerspruch zum katholischen Glauben.

Das «subsistit in» hat bis heute eine Fülle von Veröffentlichungen verursacht, von denen die einen es in einem extrem modernistischen Sinn interpretieren, als sei die katholische Kirche einfach nur eine Verwirklichungsform der Kirche Christi, andere dagegen behaupten, es sei sogar noch strenger als das ursprüngliche «est = ist». Trotz mehrerer Klarstellungen der Glaubenskongregation ist immer noch nicht klar, was es genau bedeuten soll. In allen Erklärungen kam jedoch immer zum Ausdruck, daß damit den christlichen Konfessionen außerhalb der Kirche ein positiver Wert zugesprochen werden soll. Es wird damit nicht nur behauptet, daß einzelne Gläubige der nichtkatholischen Konfessionen in der Gnade sein können – was die Kirche immer gelehrt hat –, sondern den Konfessionen wird auch als solchen ein positiver Wert zugesprochen.[78]

[73] Kleines Konzilskompendium (= KK) 21.
[74] Vgl. Wiltgens, Der Rhein fließt in den Tiber, S. 250.
[75] Ebd. S. 239 f.
[76]  Die Formulierung «subsistit in» stammt – jedenfalls nach dessen Behauptung – von dem evangelischen Pastor Wilhelm Schmidt: «Ich war, damals Pastor an der Kirche vom Heiligen Kreuz in Bremen-Horn, während der 3. und 4. Periode Beobachter beim Konzil als Vertreter der Evangelischen Michaelsbruderschaft, eingeladen von Kardinal Bea. Die Formulierung ‚subsitit in’ habe ich schriftlich dem damaligen theologischen Berater von Kardinal Frings Joseph Ratzinger überreicht, welcher sie an den Kardinal weitergegeben hat. Gegen eine Veröffentlichung dieser Angaben habe ich nichts einzuwenden» (Brief an Pater Gaudron vom 3. August 2000).
[77] Willebrands, Johannes: Mandatum unitatis. Paderborn 1989. S. 352.
[78]  Die verschiedenen Erklärungen werden untersucht in dem empfehlenswerten Buch von Wolfgang Schüler: Benedikt XVI. und das Selbstverständnis der katholischen Kirche, Wiesbaden 2008.

Quelle: Katechismus zur kichlichen Krise, Pater Matthias Gaudron, Sarto-Verlag, 2017, 4. Auflage